Nach der Jugendhilfe auf eigenen Beinen stehen

Datum: 08.08.2016 | Interview mit Lisa | geführt von Astrid Staudinger | Interview zum Download als PDF

Die Careleaverin Lisa ist 23 Jahre alt. Sie hat bei Ihrer Schwester in der Verwandtenpflege gelebt und erzählt über Ihren Umgang mit der Herkunftsfamilie.

A. Staudinger: Lisa (Studierende, 23 Jahre alt, Name wurde auf Wunsch geändert), Du bist in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Kannst Du kurz darstellen, wie es dazu kam?

Lisa: Meine Mutter starb 2001 an Brustkrebs. Ich war acht Jahre alt und hatte kein gutes Verhältnis zu meinem Vater. Die Jahre zuvor kümmerte sich bereits meine Schwester viel um mich, da meine Mutter nicht mehr alleine dazu in der Lage war. Auch als sie noch gesund war, gab es immer wieder Schwierigkeiten mit meinem Vater. Aus diesem Grund wurde ich Verwandtenpflegekind und meine Schwester somit Pflegemutter.

A. Staudinger: Hast Du den Kontakt zu Deinem Vater aufrecht erhalten wollen bzw. können? Hat es während der‚ Vollzeitpflege beispielsweise begleitete Umgänge gegeben?

Lisa: Ich wollte den Kontakt zu meinem Vater eher weniger. Er setzte mich immer wieder psychischem Druck aus und ich geriet zunehmend in seelischen Konflikt. Das Gericht ordnete jedoch immer weitere Umgänge an. Diese waren dann zwar nicht über Nacht, aber dafür ganztägig ohne Begleitung. Mit zehn Jahren beugte sich das Gericht meinem Willen und ich musste keinen Kontakt mehr zu meinem Vater haben. Die ersten Jahre erhielt ich vereinzelt noch Briefe von ihm. Doch dadurch, dass ich nicht gewillt war, ihn über mein Leben zu informieren, brach auch dies nach und nach ab. Erst als ich Bafög beantragte, musste ich den Kontakt zu ihm wieder suchen.

A. Staudinger: Findest Du es im Nachhinein gut, dass die Kontakte dann Deinem damaligen Wunsch entsprechend reduziert wurden, oder hätte es irgendeine Art von Unterstützung z.B. durch das Jugendamt oder Deine Schwester geben können, die vielleicht dazu beitragen hätten können, die Umgänge für Dich angenehmer zu gestalten? Ich meine, weil Du ihn ja eigentlich nicht sehen wolltest und Du dann doch gleich einen ganzen Tag mit ihm zu verbringen hattest.

Lisa: Ich war erleichtert, als das Urteil fiel und ich nicht mehr zum Umgang gezwungen wurde. Auch jetzt betrachte ich es als richtig. Meiner Meinung nach hätte viel eher meinem Wunsch entsprochen werden müssen. Ich denke heute, dass es mir gut getan hätte, mich mehr auf meine Mutter zu konzentrieren als auf die Existenz meines Vaters. Doch leider kann man die Zeit nicht mehr zurück drehen.

Als ich den Umgang noch wahrnehmen musste, hätte es mir möglicherweise geholfen, wenn eine neutrale Person bestimmt worden wäre, die dabei gewesen wäre. Ich weiß, dass mein Vater mir das Leben schwerer gemacht hätte, wenn ich diesen Wunsch von mir aus geäußert hätte. Doch wäre es vom Gericht gekommen und ich hätte offiziell nichts mit dem begleiteten Umgang zu tun gehabt, hätte er mich möglicherweise in Ruhe gelassen.

A. Staudinger: Wie habt Ihr eigentlich diese ganzen Tage miteinander verbracht? Was habt Ihr gemacht, mit all der Zeit?

Lisa: Häufig haben wir bei seiner Mutter – also meiner Oma – Karten gespielt. Bis heute mag ich es nicht sonderlich gern, Spiele insbesondere Kartenspiele mit meiner Familie zu spielen. Es macht mir immer ein mulmiges Gefühl… Manchmal waren wir aber auch mit dem Hund spazieren oder in seinem Schrebergarten. Seltener noch waren wir im Kino oder zu anderen Aktivitäten.

A. Staudinger: Hatte Deine Schwester das Sorgerecht, oder gab es eine Vormundschaft?

Lisa: Zunächst hatte das Jugendamt die Vormundschaft. Doch nach einigen Rechtsstreits, ungefähr als ich nicht mehr zum Umgang musste, erhielt meine Schwester die Vormundschaft für mich. Mein Vater hatte kein Sorgerecht.

A. Staudinger: War Dein Vater dann noch in irgendeiner Weise an Deiner Erziehung beteiligt, nachdem die Umgangskontakte nicht mehr stattgefunden haben?

Lisa: Nein, aber das war er vorher auch kaum.

A. Staudinger: War er auch nicht mehr bei den Hilfeplangesprächen dabei?

Lisa: Nein, aber meiner Erinnerung nach, war er das auch zu Umgangszeiten nicht. Er war nicht besonders kooperativ in jeglicher Hinsicht. Auch heute habe ich aus diesem Grund noch Schwierigkeiten wegen des Bafögs.

A. Staudinger: Was denkst Du, warum verhält er sich so unkooperativ?

Lisa: Mein Vater möchte gerne jeden Menschen in seiner Umgebung kontrollieren. Dadurch, dass er sich immer quer gestellt hat, hatte er eine gewisse Macht über mich und unsere ganze Familie.

A.           Staudinger: Was bedeutet das z.B. für Deinen Antrag auf Bafög? Als Studierende bist Du auf das Geld ja wahrscheinlich dringend angewiesen.

Lisa: Ich habe das Glück, dass ich einen sehr netten Bafög-Mitarbeiter habe. Nachdem ich mehrere Briefe an meinen Vater geschrieben hatte, damit er mir die Unterlagen ausfüllt, hat sich das Amt darum gekümmert. Letztlich ist mein Vater dazu verpflichtet Auskunft zu geben. Schlimmstenfalls zahlt das Amt vor. Alle zwei Semester wiederholt sich dieses Spiel. Ich schreibe meinem Vater, er reagiert nicht und das Amt kümmert sich dann.

A. Staudinger: Ja, es gibt den Antrag auf Vorausleistung nach § 36 BAföG (Formblatt 8) wenn kein Kontakt mehr besteht, die Eltern nicht mitwirken oder nicht auffindbar sind. Leider wissen das viele Careleaver gar nicht.

Nach dem Verhältnis zu Deinem Vater zu fragen, erübrigt sich ja fast… Ihr habt vermutlich gar keinen Kontakt mehr, abgesehen von den Briefen, die Du ihm notgedrungen wegen der Bafög-Anträge schreiben musst, oder? Weiß Dein Vater denn, wie es Dir heute geht und was Du machst?

Lisa: Ja, das ist der einzige Kontakt. Möglicherweise wäre es anders gekommen, wenn ich damals nicht zum Umgang gezwungen worden wäre. Momentan weiß er jedoch, was ich studiere und er hat letztens auf meine Baföganfrage tatsächlich mal geantwortet. Er möchte gern ein Foto von mir haben. Ich denke, dass ich ihm diesen Wunsch erfüllen kann.

A. Staudinger: Das klingt ja zumindest nach Interesse seinerseits. Denkst Du, dass sich Euer Verhältnis wieder verbessern könnte?

Lisa: Nein ich denke, das wird sich nicht ändern. Interesse hat er sicherlich, aber mir ist der Preis dafür zu hoch. Außerdem ist er Anfang siebzig, aber Unkraut vergeht nicht.

A. Staudinger: Danke für Deine Zeit und Deine Offenheit und alles Gute!

Das Interview wurde geführt am: 08.08.2016

 

Astrid Staudinger

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