Nach der Jugendhilfe auf eigenen Beinen stehen

Datum: 14.06.2017 | Interview mit Ludwig Teil 1| geführt von Astrid Staudinger | Interview zum Download als PDF

Eine Kindheit zwischen Elternhaus, Pflegefamilie und Heim

Ludwig ist Careleaver, 41 Jahre alt und Musiklehrer. Er hat als Kind und Jugendlicher in einer Pflegefamilie und auch in einer Heimeinrichtung gelebt.

A. Staudinger: Ludwig, Du bist in der Kinder- und Jugendhilfe groß geworden und hast sowohl in einer Pflegefamilie als auch in heimstationären Einrichtungen gelebt. Wie war Dein Werdegang in der Jugendhilfe und was machst Du heute?

Ludwig: 1983, mit 8 Jahren kam ich zu einer Pflegefamilie, drei Jahre später in ein Kinderheim. 1989 richtete ein Sozialpädagoge, der in meiner Heimgruppe arbeitete, eine sog. Außenwohngruppe ein. Ich lebte dort mit meinem kleinen Bruder und einem weiteren Jungen aus dem Heim im Haushalt der Familie. Die Jugendhilfe endete mit meinem Abitur. Während des Zivildienstes mietete ich mein ehemaliges Zimmer und bezahlte eine Verpflegungspauschale, bis ich dann 1997 ein Musikstudium in Amsterdam begann. Ich lebe seit ca. 15 Jahren wieder in Deutschland und arbeite als Musikschullehrer im Raum Berlin.

A. S.: Darf ich fragen, weshalb Du in die Jugendhilfe gekommen bist? Und weshalb erfolgte der Wechsel von der Pflegefamilie in ein Kinderheim?

L.: Soweit ich das heute rekonstruieren kann, anhand von den Aussagen meiner Eltern, anhand von Fotoalben und Informationen meiner Oma, waren meine Eltern ganz normale Leute, die versuchten Familie, Arbeit und Hausbau, traditionelles Familienidyll also, zu meistern. Im ersten Grundschuljahr musste noch alles einigermaßen normal gewesen sein. Irgendwann kam dann ein Bruch. Meine Mutter hatte zunehmend psychische Probleme, verbrachte lange Aufenthalte in der Klinik. Mein Vater verlor seine Arbeit, mit den üblichen finanziellen Problemen. Dazu kam dann ein schwerer Unfall, den er beim Schwarzarbeiten erlitt, mit wochenlangem Krankenhausaufenthalt und einer gebliebenen Gehbehinderung. Die Situation war sehr chaotisch, ich war Zeuge der Gewalt meines Vaters gegenüber meiner Mutter. Meine Mutter versuchte, die Familie zu verlassen, manchmal war ich bei diesen Fluchtversuchen dabei. Ich war oft nicht in der Schule. Mir fällt es sehr schwer abzuschätzen, wie lange dieser Prozess der Zersetzung dauerte. Irgendwann ließ sich die Situation nach außen hin nicht mehr verschleiern. Ein Nachbar meldete irgendwann, dass mein kleiner Bruder im Winter nur mit Windel und Hemd bekleidet draußen spielt. Das Jugendamt veranlasste dann wegen Verwahrlosung die Übergabe zu einer Pflegefamilie. 

Die Pflegefamilie waren einfache Leute mit einem Bauernhof und jeder Menge Arbeit. Wir Pflegekinder waren eine zusätzliche Einnahmequelle. Mein Vater intervenierte heftig mit polizeilichen Anzeigen, Telefonterror, etc. Diese Belastung und vielleicht die lange Pflegeaussicht wegen meines Gymnasiumbesuchs waren dann Anlass, die Jugendhilfe im Heim fortzusetzen.

A.S.: Da mussten Du und Dein Bruder ja ein paar Jahre lang viel ertragen und aushalten in der Familie. Waren die Herausnahme aus der Familie und der Wechsel in die Pflegefamilie dann eine „Verbesserung“ für Dich, oder wärst Du womöglich trotz der Probleme lieber in Deiner Familie geblieben? Ja, und dann meintest Du, Ihr wart für die Pflegefamilie „eine zusätzliche Einkommensquelle“. Klar, die Pflegefamilie bekam sicherlich ein Erziehungsgeld und Unterhalt für Euch, aber bedeutet Deine Aussage, dass Du Dich als Pflegekind in der Pflegefamilie nicht als Mensch willkommen gefühlt hast?

L.: Bevor die Pflegefamilie gefunden war, wurden wir in ein Übergangsheim gebracht. Zunächst hat das Jugendamt meinen Eltern erzählt, wir Kinder würden auf Erholung geschickt. Vielleicht war es geplant, die Krise innerfamiliär abzufangen. Mein Bruder wirkte bei alldem ungerührt. Für mich war es sehr schmerzhaft von meinen Eltern getrennt zu sein, trotz allem. Ich war immer der „Verbündete“ meiner Mutter und wollte nicht zu Pflegeeltern. Meine Pflegemutter besuchte uns einmal in diesem Übergangsheim, für mich war sie eine „dunkle“ Frau, vor der ich regelrecht Angst hatte. Bei unseren Pflegeeltern angekommen, weinte ich einen ganzen Tag lang am Stück. Zum Abendessen hatte ich mich dann beruhigt und spielte bereits mit den Pflegegeschwistern. Es ging dann doch sehr schnell, bis ich mich eingelebt hatte. Es gab die neue Umgebung auf dem Bauernhof, eine neue Schulklasse, neue Freunde in der Nachbarschaft. Bei meinen Eltern lebte ich eigentlich sehr isoliert und viel zu sehr symbiotisch in dem Sumpf, in dem meine Eltern feststeckten. Ich merkte schnell, wie geregelt und stabil die neue Heimat bei meinen Pflegeeltern war.

Ein Problem war sicher, dass sowohl mein Vater mir die Pflegeeltern madig machte, indem er solche Dinge betonte, dass diese uns nur des Geldes wegen genommen haben. Auf der anderen Seite wurde mein Vater von meinen Pflegeeltern buchstäblich verteufelt. Er galt schon mal als Satan oder Tyrann.

Ich erlebte in der Pflegefamilie schon den Unterschied, dass wir Pflegekinder nicht den Status der eigenen Kinder hatten. Es war ein einfaches katholisches Umfeld auf dem bayrischen Land. Da wurde nicht sehr einfühlsam miteinander umgegangen. Im Nachhinein waren es trotzdem sehr schöne drei   Jahre bei meiner Pflegefamilie. 

A.S.: Das klingt, als wäre es in der Pflegefamilie einerseits ganz gut gewesen, während es andererseits weiterhin Schwierigkeiten gab, u.a. durch die anscheinend vorhandene Konkurrenzsituation zwischen Deiner Familie und Deiner Pflegefamilie. Gab es eine professionelle Zusammenarbeit, z.B. seitens des Jugendamts, mit den beiden Familien? Haben Fachkräfte versucht zu vermitteln und die Familien zu unterstützen? Und wie meinst Du das mit dem unterschiedlichen Status von Dir als Pflegekind und den eigenen Kindern der Pflegefamilie, könntest Du Beispiele benennen?

L.: Meine Eltern hatten monatliche Besuchszeiten, die anfangs bei meinen Pflegeeltern stattfanden, bis sich mein cholerischer Vater, mit seinen Krücken fuchtelnd, und mein Pflegevater, ein Koloss von einem vitalen Bauern, Schläge androhten. Die Besuche fanden ab dann in einem Spielzimmer des Jugendamtes statt. Eine Vermittlung war daher völlig aussichtslos, auch wenn es sicher zunächst versucht wurde.

Unser Status in der Pflegefamilie fiel auf, wenn wir bei deren Familienfesten oder bei Besuchen der Großeltern der leiblichen Kinder waren. Mein Bruder und ich mussten dann manchmal an einem eigenen Tisch sitzen, weil wir erst gar nicht miteingerechnet wurden. Oder die Oma wollte natürlich wissen, wie es ihren Enkeln so geht. Wir waren dann mehr das fünfte Rad am Wagen und wir blieben zunehmend allein zuhause bei solchen Feiern.

In der Pflegefamilie selbst haben sich die eigenen Kinder dann zunehmend mehr Sonderzeiten genommen, zum Beispiel durfte die Tochter abends länger aufbleiben, obwohl sie jünger war als ich. Sonntags durften die eigenen Kinder die Kirche schwänzen, während ich keine Chance hatte, zuhause zu bleiben. Auch was Körperkontakt angeht, es wirkte auf mich, als gäbe es zwei verschiedene Umgangsweisen.

Meine Oma versorgte uns immer mit Kleidung und Geschenken zum Geburtstag und Weihnachten. Deshalb bekam ich von meinen Pflegeeltern keine Geschenke. Das war strikt getrennt, wobei meine Oma wohlhabend genug war, uns über-ausreichend zu versorgen. Es hat uns an nichts gefehlt, aber Kinder merken jeden Unterschied sehr penibel. Das war unklug geregelt und verschärfte nur noch mehr die Konkurrenzsituation.

Eine Sache, die mich sehr getroffen hat war, dass ich damals schon ein Musikinstrument lernen wollte, das aber nicht durfte. Vielleicht weil man mich hätte irgendwo hinfahren müssen. Die Tochter bekam aber Gitarrenunterricht, und der Sohn bekam ein Keyboard, obwohl beide eigentlich untalentiert und nicht besonders interessiert waren.

Auch Fußball- oder Eishockeyverein waren völlig aussichtslose Wünsche von mir, warum habe ich damals nicht ganz verstanden.

A.S.: Bewirkte dieses, im Vergleich zu den eigenen Kindern der Pflegefamilie so unterschiedlich behandelt zu werden, dass Du da wegwolltest? Du kamst ja dann in ein Kinderheim. Und Dein Vater hat ja heftig dazwischengefunkt, so wie Du sein Verhalten beschreibst: wollte er, dass Du und Dein Bruder wieder zurück zu ihm und Deiner Mutter kommen?

L.: Trotz der Probleme, wollte ich nicht mehr von meiner Pflegefamilie weg, weder zu meinen Eltern zurück, noch irgendwo anders hin. Nach der Grundschule hatte ich eine Empfehlung für das Gymnasium. Das Jugendamt und meine Pflegeeltern waren dafür, zunächst die Hauptschule und dann eventuell die mittlere Reife zu machen, das müsse reichen, hieß es. Mein Vater setzte das Gymnasium aber durch, wofür ich ihm sehr dankbar sein muss. Meine Pflegeeltern wollten dann aber wenigstens, dass ich ein Internat besuche, und nur am Wochenende dann bei ihnen bin. Da habe ich mich auch heftig gewehrt. Der Wechsel ins Kinderheim war ein noch größeres Drama für mich, als der Abschied aus meiner echten Familie.

Mein Vater hat während dieser Zeit mit allen Mitteln versucht, seine Kinder wieder zurückzubekommen, was für ihn zunehmend aussichtsloser wurde, da er über keine diplomatischen Charaktereigenschaften verfügte. Und sein Verhalten hat schließlich dazu geführt, dass ich wieder eine Heimat verlassen musste.

A.S.: Also, wollten Deine Pflegeeltern Dich angesichts des Wechsels ans Gymnasium trotzdem in der Pflegefamilie behalten oder wollten sie den Kontakt an der Stelle reduzieren? Das habe ich noch nicht ganz verstanden.

L.: Viele von den strategischen Gesichtspunkten im Hintergrund zwischen Jugendamt, Pflegefamilie und meinen Eltern kann ich nicht ganz genau benennen. Meinen Pflegeeltern fiel es schwer, mich abzugeben, die Dynamik der Störungen durch meinen Vater und die Schwierigkeiten in der Pflegefamilie durch hohe Arbeitsbelastung, zunehmend pubertierenden eigenen Kindern, die Streitereien zwischen Pflegekindern und eigenen Kindern und die Aussicht auf eine sehr lange Pflegezeit bis zu meinem Abitur waren dann doch zu viel für sie. Ich kenne auch die ursprüngliche Planung des Jugendamts nicht, vielleicht sollte die Pflegefamilie nur auf Zeit sein, bis sich meine Eltern wieder sortiert hatten. Dies war dann aber doch keine realistische Option mehr.

A.S.: Haben sich Deine Eltern denn wieder sortiert? Du hast Deinen Bruder erwähnt … wie viele Geschwister hast Du und wo waren sie?

L.: Meine Eltern konnten ihre Situation nicht mehr verbessern, im Gegenteil. Die Schizophrenie meiner Mutter wurde chronisch, mein Vater ist seit dieser Zeit Frührentner. Das Haus haben sie verloren. Mein Vater verstrickte sich immer weiter in den Kampf um seine Kinder. Beide verwahrlosten zunehmend.

Mein kleiner Bruder war immer mit mir zusammen. 1983 war meine kleine Schwester ein Säugling und wurde in eine andere Pflegefamilie gegeben, wo sie bis zum Ende der Jugendhilfe blieb.

Meine Eltern haben dann völlig unverantwortlich noch zwei weitere Kinder bekommen, eine Schwester und einen Bruder, die nach einigen Jahren unter strenger Beobachtung des Jugendamts schließlich auch zusammen in eine Pflegefamilie genommen wurden.

Wir sind also insgesamt fünf, in drei verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen.

A.S.: Konntest bzw. wolltest Du in all den Jahren Kontakt zu Deinen Geschwistern halten und wie intensiv war das? Hat das jemand gefördert? Ich denke bei der Frage an alle Erwachsenen: die Fachkräfte des Jugendamtes aber auch die Pflegeeltern und Deine Eltern.

L.: Zunächst gab es uns drei, das war die Zeit, die ich bei meinen Pflegeeltern verbrachte. Es gab regelmäßig gegenseitige Besuche, 2- bis 3-mal im Jahr, verabredet von meinen Pflegeeltern und den Pflegeeltern meiner kleinen Schwester. Beide Familien wohnten nur 30 km voneinander entfernt, alle trafen sich zu Kaffee und Kuchen, was ich immer als sehr schön empfand. Die Pflegemutter meiner Schwester war eine sehr gesellige Person, ich mochte sie sofort. Sie betrieben ein Musikhaus, was mich sehr faszinierte. Meine Schwester war noch sehr klein, ich konnte also nur bedingt mit ihr spielen, es war schon etwas komisch, dass da noch jemand zu meinen Geschwistern gehörte, aber alle nahmen die Situation eben wie sie war. Meine beiden Geschwister, die später kamen, habe ich dann kennengelernt, als ich schon im Heim war. Mein Vater schob einen Kinderwagen rein und sagte ganz feierlich: „Das ist deine Schwester“. Das fand ich sehr befremdlich. Ich fühlte mich niemandem von diesen Personen zugehörig. Der Kontakt zu meiner Schwester, die noch immer in der Nähe meiner Pflegeeltern wohnte, wurde etwas weniger, weil mein Heim 250 km weit entfernt war. Ich besuchte sie noch gelegentlich mit meiner Pflegemutter, wenn ich dort in Ferien war.

Heute ist das Verhältnis zu meinen Geschwistern nicht besonders gut. Mein Bruder ist total anders als ich, wir verstehen uns eigentlich schon nicht mehr, seit wir in die Pubertät kamen. Kontakt haben wir momentan keinen. Mit meiner Schwester stehe ich in Emailkontakt, mehr finde ich schnell anstrengend. Es ist schnell sehr gereizt zwischen uns. Die beiden kleinen Geschwister sehe ich höchstens, wenn ich meine Pflegeeltern besuche. Die wohnen auch ganz in der Nähe.

A.S.: Du meintest vorhin, dass Dir Dein Vater mit der Pflegefamilie nochmal eine Heimat weggenommen hat. Du sagtest aber auch, dass Du ihm dankbar sein musst, weil er Deinen Wechsel ans Gymnasium durchgesetzt hat. Wie ist es Dir dann im Kinderheim und am Gymnasium ergangen? Wie ging es mit Deinen Eltern und den Pflegeeltern weiter?

L.: Den Wechsel ins Kinderheim fand ich grauenvoll. Wochenlang wurden unsere Spielsachen und Kleidung separiert, ich hatte noch bei den Pflegeeltern viele Anfälle, wo ich weinend und schreiend auf den Fußboden hämmerte. Über die ersten Jahre konnte ich mich nicht wirklich eingewöhnen. Erzieher, die ich gerne hatte, waren schon nach Monaten wieder weg. Es waren einfach keine Bindungen mehr möglich. Im Heim fieberte ich immer auf die Sommer- und Weihnachtsferien hin, da besuchte ich dann meine Pflegeeltern 10 bis 14 Tage. Schon eine Woche vor der Rückkehr ins Heim fürchtete ich den Abschied. Ich musste dann immer weinen und brauchte die Zugfahrt, um mich zu sammeln. Die ersten Tage im Heim waren dann sehr deprimierend. Irgendwann war es dann wieder Normalzustand. Nur auf die Schule freute ich mich, meine Klassenkameraden zu sehen. Die Gymnasiumzeit verbinde ich mehr mit meinem „eigentlichen“ sozialen Leben, als mit einer schulischen Einrichtung. Dort waren normale Kinder, aus normalen Familien. Im Kinderheim gab es schlimme Biografien, verhaltensgestörte Kinder, Misshandelte. Und einen stressigen Kampf um die Aufmerksamkeit der Betreuer oder um Annehmlichkeiten, wie mal einen Film außer der Reihe anschauen zu dürfen. Alles war zugesperrt und abgezählt.

Meine Eltern nahmen einmal im Monat ihre Besuchszeit in unsere Heimgruppe wahr, was für mich mit sehr viel Stress verbunden war, aber auch eine Art von Aufmerksamkeit bot, die den kalten und langweiligen Kinderheimalltag durchbrach. Mein Vater fiel auch der Heimleitung auf, die meinte, sie hätten noch nie Eltern erlebt, die ihre Besuchszeit so zuverlässig wahrnahmen. In elf Jahren monatlicher Besuchszeit war mein Vater nicht einmal krank, zu spät oder ließ die Zeit ausfallen.

Im Prinzip habe ich jedoch meine Pflegeeltern mehr als meine Eltern betrachtet, als meine leiblichen Eltern. Die Ferienbesuche bei meinen Pflegeeltern wurden dann aber zunehmend langweiliger, auch weil deren Kinder ihr eigenes Leben hatten, was sich zunehmend außer Haus abspielte. Mein ehemaliger Nachbarsfreund hatte nur noch selten Zeit, das idyllische Dorf war dann doch zunehmend  lasch, als ich 14, 15 Jahre alt war. Dazu kam, ein Sozialpädagoge aus meiner Heimgruppe kaufte sich ein Bauernhaus auf dem Land und richtete eine Außenwohngruppe ein, in der ich, mein kleiner Bruder und ein weiterer Junge aus dem Heim wohnen konnten. Für mich war das eine große Erlösung, nicht mehr im Heim zu leben, eine regelrechte Befreiung.

Mit meiner Pflegemutter kam es in den Sommerferien zu einem Streit, oder Ausbruch, der auf einem frechen Kommentar meines Bruders beruhte. Eigentlich eine Kleinigkeit, meine Pflegemutter jedoch verlor die Beherrschung und beschimpfte mich und meinen Bruder, meine Eltern, und wie wir doch froh sein sollen, dass wir überhaupt in den Ferien kommen dürfen, etc.

Von da an war dann Sendepause, wir fuhren dann in den Ferien nicht mehr hin. Es kam auch vorerst zu keiner Aussprache, mein Erzieher wusste nichts davon. Es war sehr unglücklich.

A.S.: Und wie ist Dein Kontakt heute zu Deiner Familie? Hast Du noch oder wieder, denn dafür musste ja jemand den ersten Schritt tun, und die Funkstille beenden, Kontakt zur Pflegefamilie?

L.: Der Kontakt heute zu meinem Vater ist begrenzt. Meine Eltern mussten beide zusammen vor ca. 6 Jahren in ein Seniorenstift umziehen, obwohl sie eigentlich noch nicht ganz das passende Alter hatten, weil sie nicht mehr ausreichend für sich selbst sorgen konnten. Meine Mutter ist in diesem Stift vor 3 Jahren vorzeitig verstorben, was für meinen Vater eine schwere Belastung war, und er seitdem gebrochen wirkte. Momentan geht es ihm wieder etwas besser, auch weil er eine ältere Dame im Stift kennengelernt hat. Ich rufe ihn gelegentlich an, was dann ca. 3 Minuten dauert.

Zu meinen Pflegeeltern ist der Kontakt seit dem Tod meiner Mutter wieder intensiver. Zwischenzeitlich ist dieser Kontakt doch immer lose vorhanden gewesen, sie meldeten sich, als z.B. eine komplizierte  Operation meines Pflegevaters anstand. Den Abbruch damals löste meine Pflegemutter auf, als sie sich bei dem Pädagogen der Außenwohngruppe meldete, und ihm die Geschichte erzählte, und mitteilte, wie Leid es ihr tat. Ich besuche sie jetzt jedes Jahr ein paar Tage im Sommer, zwischendurch telefonieren wir. Oft reden wir über die Zeiten von damals, manchmal stelle ich direkte Fragen, es ist ein klein wenig Aufarbeiten möglich. Auf viele Situationen konnte ich nochmals einen anderen, reiferen Blickwinkel richten. Im Prinzip sind sie da, wenn ich was bräuchte.

A.S.: Welche Rolle spielte eigentlich Bildung für Dich?

L.: Bildung bedeutet für mich in erster Linie Anerkennung und Wertschätzung, mithalten zu können, in bestimmten Gruppen akzeptiert zu sein, und von anderen wiederum abgegrenzt zu sein. Ich war im Kinderheim eines von zwei Kindern, die zu dieser Zeit das Gymnasium besuchten. Auf diese Besonderheit war ich sehr stolz und es ermöglichte mir auch eine gewisse Abgrenzung gegenüber den anderen Kindern. Bei diesen Kindern war ich der arrogante Gymnasiast, was für mich gar keine Beleidigung war. Bildung war für mich nie ein Vehikel für direkten gesellschaftlichen Aufstieg oder um Reichtum zu erlangen. In meiner Situation ist es jedoch sehr entscheidend, ob man sich mit irgendetwas ein positives Selbstwertgefühl aufbauen kann, was eine positive(re) Zukunft erwarten lässt. Die Schulbildung und meine künstlerischen Begabungen halfen mir sehr dabei. Auch der Erste in meiner Stammfamilie zu sein, der das Abitur erreicht, bedeutete für mich, ich bin nicht gezwungen, den gleichen Lebensweg wie meine Eltern zu beschreiten. Ich habe mehr Möglichkeiten, ich kann mir meine Umwelt nach meinen Vorstellungen gestalten, sobald ich das Kinderheim abgehakt haben würde.

Auch hilft Bildung mir dabei, die Gründe für das Scheitern meiner Eltern einordnen zu können. Meine Geschichte hat mich ab einem bestimmten Punkt als Erwachsener unvermeidlich dazu angetrieben, mich in die Psychologie einzulesen, um mich und meine Eltern besser verstehen zu können.

A.S.: Aus Deiner umfangreichen Jugendhilfeerfahrung heraus, aber auch aus pädagogischer Sicht: hast Du einen Tipp, eine Anregung o.ä. für Pflegefamilien und/oder sozialpädagogische Fachkräfte, wie sie zum guten Gelingen der Hilfe für Kinder und Jugendliche beitragen können?

L.: Ich würde mir für angehende Pädagogen wünschen, dass die Bildungsträger keine Kosten und Mühen scheuen, die Qualität der Ausbildung, Einrichtungen und Vernetzung der unterschiedlichen Disziplinen in der Kindererziehung noch weiter zu verbessern. Aus meiner Erfahrung muss ich sagen, die Erzieher und Pädagogen waren psychologisch schlecht ausgebildet. Mit den Kindern im Heim fand quasi keine Traumaarbeit statt. Eine wirklich echte, persönliche Kommunikation mit den Kindern konnte kaum stattfinden. Dazu gehört natürlich auch die Bezahlung der Pädagogen, das Aufwerten des Berufsbildes, was durch eine intensivere Ausbildung gerechtfertigt wäre. Es ist eine unglaublich wichtige und schwierige Arbeit, und die Politik sollte wie in allen Bildungsfragen ihr Versprechen, dass Kinder eine sehr hochwertige Bildung erfahren sollten, endlich wahr machen. Ich denke, viele Schicksale in der Jugendhilfe, die direkt im Nirgendwo landen, könnten so aufgefangen werden.

Für Pflegefamilien wäre auch eine Art Grundausbildung ratsam, die die besonderen Schwierigkeiten ansprechen, die aus der seltsamen Konstellation aus Bindung, Nähe, Familie aber nicht leiblich, etc. hervorgehen. Gerade die potentiellen Probleme könnte man im Vorfeld sicher noch besser veranschaulichen. Es hat sich hoffentlich diesbezüglich seit meiner Zeit in der Jugendhilfe eine Menge getan.

A.S.: Das hoffe ich auch. Was die von Dir vorgeschlagene Grundausbildung betrifft, so gibt es beispielsweise bei unserem Träger Familien für Kinder tatsächlich eine Grundqualifizierung für Pflegeeltern und darüber hinaus, also während der Dauer des Pflegeverhältnisses, ein Fortbildungsangebot. Insgesamt, also bundesweit und flächendeckend gibt es sicherlich noch „Luft nach oben“, was die Schaffung von Standards betrifft.

Ich danke Dir für Das Interview, für Deine Zeit und Deine Offenheit.

Das Interview mit Ludwig* führte Astrid Staudinger, Koordinatorin Careleaver Kompetenznetz, Familien für Kinder gGmbH, am 14.06.2017.

www.careleaver-kompetenznetz.de

*Der Name wurde auf Wunsch geändert.

 

Der Beitrag ist zuersterschienen in Pflegekinder 1/2017.

 

Astrid Staudinger

Careleaver-Kompetenznetz

Familien für Kinder gGmbH

Stresemannstr. 78 ·  10963 Berlin

Tel: 030 / 21 00 21-29 – Fax: 030 / 21 00 21-24

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