Nach der Jugendhilfe auf eigenen Beinen stehen

Datum: 03.01.2017  |  Geschrieben von Astrid Staudinger

"Hilfen beim Übergang von Careleavern aus Pflegefamilien in die Selbstständigkeit"

Beim Übergang in die Selbstständigkeit sind von den jungen Erwachsenen aus Pflegefamilien, sowie deren Pflegeeltern und anderen UnterstützerInnen viele Details zu beachten und zahlreiche Schritte zu gehen. Fachliche Beratung erhalten die Pflegefamilien dabei von den BeraterInnen ihres zuständigen Fachdienstes sowie durch Fortbildungen der Pflegekinderdienste zum Thema Verselbstständigung/ Übergang. Idealerweise sind außer den Pflegeeltern auch die jungen Menschen
eingeladen, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen.

Die Bedürfnisse des jungen Menschen sollten im Vordergrund stehen, wenn es darum geht, gemeinsam einzuschätzen, ob der Übergang überhaupt schon ansteht und vom jungen Menschen zu dem geplanten Zeitpunkt gewollt und zu bewältigen ist. Dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe – gemäß der gängigen Praxis in Deutschland – womöglich darauf drängt, die Vollzeitpflege des Pflegekindes mit dem 18. Lebensjahr oder bald danach zu beenden, kann nicht das entscheidende Kriterium sein. Der 18. Geburtstag markiert lediglich den Übergang in die formale Volljährigkeit, sagt jedoch nichts über das subjektive Sicherheitsgefühl, die Ängste oder die vorhandenen Kompetenzen einer Person aus. Entscheidender sind der Stand der Persönlichkeitsentwicklung und der bereits erreichte Grad der Selbstständigkeit. Auch der Stand der Schul- und Berufsausbildung sollte berücksichtigt werden. Entscheidend hierbei ist die Selbsteinschätzung der Person, die den Übergang schaffen soll, oder sich diesen vielleicht noch nicht zutraut. Häufig ist jungen Menschen durch die Situation des Versorgtwerdens innerhalb der Pflegefamilie noch gar nicht bewusst, was beim Umzug in die erste eigene Wohnung im Detail alles an Anforderungen und Verantwortung auf sie zukommt. Häufig wird die formale Beendigung der Hilfe zur Erziehung innerhalb der Pflegefamilie wenig thematisiert, weil man sich „als Familie fühlt“ und es für viele Pflegeeltern recht selbstverständlich ist, die Pflegekinder irgendwie weiter zu unterstützen. Allerdings bleibt für die junge Menschen in der Verselbstständigungsphase dabei manchmal etwas unklar, in welcher Weise der Kontakt weitergeführt werden wird und welche materielle und immaterielle Unterstützung von den oft als Eltern erlebten (aber juristisch nicht unterhaltsverpflichteten) Pflegeeltern noch erwartet oder geleistet werden kann. Vielleicht haben die Pflegeeltern gegenüber dem Pflegekind mal erwähnt, dass sie das Pflegekind adoptieren wollen, doch dann haben sie das Thema Adoption nie wieder erwähnt … Was womöglich seitens der Pflegeeltern kein konkreter Plan, sondern „nur mal laut gedacht“ war, kann Verunsicherung und Kränkungen beim Pflegekind auslösen. Nicht nur aus emotionalen, sondern auch aus finanziellen Gründen, empfiehlt es sich, dass Pflegeeltern und jugendliche Pflegekinder sich rechtzeitig vor Beendigung der Vollzeitpflege zu Adoptionsfragen, Nachlassthemen und Testamentsmöglichkeiten informieren, falls eine Absicherung des Pflegekindes nach Beendigung der Hilfe auf diesem Weg geplant ist.

Das Gesetz sieht durch den § 41 SGB VIII Hilfen für junge Volljährige vor, sofern es einen entsprechenden Bedarf gibt. Diese Hilfe kann auch als Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII geleistet werden, wenn die Hilfe auf Grund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist, weil noch Hilfe zur Verselbstständigung oder in der Persönlichkeitsentwicklung nötig ist.

Worauf ist beim Übergang von Vollzeitpflege in das eigenverantwortliche Leben zu achten?

Was beim Übergang in die Selbstständigkeit bedacht werden sollte ist in der nachfolgenden Übersicht zusammengefasst, die als Hilfestellung gedacht ist. Sie ist aus eigenen Erfahrungen und ähnlichen Tabellen, Fragebögen und Listen entstanden, die in der Arbeit mit Jugendlichen ab 16 Jahren und jungen Erwachsenen von sozialpädagogischen Fachkräften entwickelt und verwendet wurden oder in ähnlicher Form noch verwendet werden. Im Laufe der Jahre kamen neue Anforderungen hinzu, die Übersicht wurde erweitert und das Empfinden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen einbezogen, die mit solchen Instrumentarien im Rahmen von Jugendhilfe umgehen mussten. Die Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die individuelle Situation eines jungen Menschen kann noch zahlreiche andere Schritte auf dem Weg in die Selbstständigkeit nötig machen. Es sollte bei der Nutzung dieser Übersicht nicht vergessen werden, dass der Normalitätskonstruktion, die die beteiligten Pflegeeltern und sozialpädagogischen Fachkräfte zur Einschätzung eines jungen Menschen und seiner Kenntnisse und Fähigkeiten anwenden, womöglich ganz andere normative Vorstellungen seitens des jungen Menschen

gegenüberstehen (z.B. zur Frage: Was ist eine „ordentliche Wohnung“?). Bei jungen Volljährigen sind Beteiligung und die eigene Einschätzung der Situation und Bedürfnisse entscheidend für eine mögliche Hilfe für junge Volljährige. Auch wenn das System der HelferInnen es „gut meint“, ist noch nicht sicher, dass dies bei den AdressatInnen auch ebenso so positiv ankommt und dass ihnen die Ratschläge und Interventionsbemühungen der Erwachsenen und Fachkräfte wirklich weiterhelfen. Wenn es junge Erwachsene dazu drängt, über ihr Leben allein bestimmen zu wollen, können Pflegeeltern sie in ihren Kompetenzen bestärken und sie ziehen lassen (wobei viele Pflegeeltern weiterhin informell mit Rat und Tat unterstützen, allerdings ohne diese Unterstützung seitens des Jugendamtes finanziert zu bekommen). Um die Situation der Careleaver nachhaltig zu verbessern, sollte das Jugendhilfesystem mit seinen Hilfsangeboten für die vormals betreuten jungen Menschen „zuständig bleiben“. Also – auch finanziell – in der Verantwortung bleiben, falls sich ein junger Mensch überschätzt hat und doch nochmal zurück in die Jugendhilfe möchte oder falls jemand sich auf Grund einer Krise in einer veränderten Lebenssituation wiederfindet, die eine neue Planung und Unterstützung von außen nötig werden lässt. Gesetzlich gibt es diese Rückkehroption, in der Praxis findet sie jedoch kaum Anwendung.

Die Übersicht soll Erleichterung bei den konkreten Schritten im Übergang bieten; sie ist jedoch nicht als technokratisches Instrumentarium zum Abhaken gemeint, hinter der das reale Individuum ungesehen verschwindet. Vielmehr ist die Übersicht dazu geeignet, den jungen Menschen, die Pflegeeltern, die beratende Fachkraft des Pflegekinderdienstes, ggf. die Vormundschaft rechtzeitig miteinander ins Gespräch zu bringen, um mit einer fachlichen Einschätzung über den weiteren Hilfebedarf oder die Möglichkeit der Beendigung in die Hilfeplanung und/oder die Gespräche mit Vormündern gehen zu können. Jugendlichen kann die Übersicht helfen, zu einer realistischen Selbsteinschätzung hinsichtlich der eigenen Ziele, Wünsche und Kompetenzen zu gelangen und sich zu überlegen, ob sie schon selbstständig in eigenem Wohnraum leben wollen und können, oder ob noch andere Maßnahmen sinnvoll sind, z.B. die Verlängerung der Vollzeitpflege über die Volljährigkeit hinaus, Wechsel aus der Pflegefamilie in eine stationäre Unterbringung, wie z.B. Verselbstständigungswohngruppe oder ein Betreutes Einzelwohnen (diese spezialisierten Verselbstständigungsangebote stehen in Deutschland nicht flächendeckend zur Verfügung), um noch mehr Sicherheit zu erlangen oder sich noch eine Weile im vertrauten und geschützten Umfeld auf Schule oder Berufsausbildung konzentrieren zu können.

Der Wechsel von Fachkräfteblick und Careleaver-Perspektive in der Sprachanwendung innerhalb der Übersicht ist beabsichtigt. Der Perspektivenwechsel soll verdeutlichen, dass junge Menschen auf dem Weg in die Selbstständigkeit teilweise andere Sorgen und Nöte haben, als Pflegeeltern und Fachkräfte, die diese Verselbstständigung idealerweise in guter Zusammenarbeit unterstützen und begleiten, aber nicht erleben.

Übersicht: Worauf ist beim Übergang von Vollzeitpflege in das selbstverantwortliche Leben zu achten? Was ist konkret zu tun? Was sollte beim jungen Menschen beim Übergang vorhanden sein?

1. Persönlichkeitsentwicklung

- Kein akut selbst- oder/und fremdgefährdendes Verhalten

- Soziale Kompetenzen sind vorhanden (z.B. Beziehungsfähigkeit, Frustrationstoleranz, Konfliktfähigkeit, Problemlösungskompetenz)

- Gesellschaftliche Normen und Regeln sind bekannt

- Es gibt nicht nur eine Idee vom eigenen Lebensentwurf, sondern auch das Wissen, wie welche Schritte in welcher Reihenfolge zu gehen sind, damit die Idee umgesetzt werden kann.

- Wissen, wie nach einer Veränderung des Lebensentwurfes ein Neustart mit einer anderen Idee umgesetzt werden kann und woher ggf. Hilfe zu bekommen ist: Wie finde ich jetzt so schnell einen neuen Schulplatz? Ich möchte die Ausbildung abbrechen und doch lieber studieren; bekomme ich dann Bafög?

- Tagesstruktur einhalten können

- Pünktlich sein können

- Fähigkeit, eigene Entscheidungen treffen zu können

- Fähigkeit, allein sein zu können, ohne zu vereinsamen

- Kontakte knüpfen können, um nicht allein sein zu müssen

- Das Wissen („Notfallkoffer“ mit konkreten Adressen und Anlaufstellen; bisher bewährte Mutmacher) und den Mut haben, sich Hilfe zu organisieren; im Alltag, wie bei persönlichen Krisen

2. Berufsausbildung / Arbeit / Studium

- Ggf. Eingliederung in ein Praktikum oder berufsvorbereitenden Lehrgang

- Motivation für Schule, Ausbildung und Studium ist vorhanden und es gelingt, regelmäßig an Unterricht / der Berufsausbildung / den Seminaren und Vorlesungen teilzunehmen.

- Berufsberatung / Studienberatung hat ggf. stattgefunden.

- Die schulische / berufliche Entwicklung läuft gut und wird aller Voraussicht nach nicht durch die Beendigung der Jugendhilfe gefährdet.

- Die Perspektive hinsichtlich Schule/Ausbildung/Studium ist geklärt.

- Eine Anbindung an Jobcenter/Arbeitsagentur wird rechtzeitig eingeleitet. Die Jugendhilfe sollte erst beendet werden, wenn der Übergang auch finanziell abgesichert ist (d.h. wenn dem jungen Menschen real Gelder zur Verfügung stehen).

Achtung: Durch das Hilfesystem Jobcenter werden keine jugendhilferechtlichen Leistungen erbracht! Benötigt der junge Mensch noch Unterstützung und Förderung durch Jugendhilfeleistungen, ist eine Überleitung zum Jobcenter meist kontraindiziert. Die Sanktionierungen des Jobcenters (z.B. bei mangelhafter Mitwirkung) können bis hin zur Existenzgefährdung durch Wohnungslosigkeit führen.

3. Finanzen

- Die finanzielle Absicherung muss beim Übergang gewährleistet sein! Vor Entlassung aus der Vollzeitpflege ggf. Überleitung an das zuständige Jobcenter.

- Klärung, ob der junge Mensch seinen Lebensunterhalt auf der Grundlage von Ausbildungsvergütung, Berufsausbildungsbeihilfe (BAB), BAföG, Kindergeld, Unterhalt, Wohngeld, (Halb-) Waisenrente selbst, also ohne Arbeitslosengeld II zu beziehen, leisten kann.

- Ggf. Prüfung, ob mit den Herkunftseltern eine Abzweigung des Kindergeldanspruches vereinbart werden soll, damit der junge Mensch das Kindergeld von der Familienkasse direkt auf das eigene Konto überwiesen bekommen kann.

- Zur Antragstellung von ALG II („Hartz IV“) empfiehlt es sich, den jungen Menschen zu begleiten und ergänzend zu den Antragsunterlagen dabei zu haben: Mietvertrag, Personalausweis, Meldebescheinigung, polizeiliche Anmeldung und Belege/Bescheide über jegliches Einkommen. Meist verlangt das Jobcenter auch die Vorlage der Kontoauszüge der letzten Monate (lückenlos und im Original).

- Mit dem zur Verfügung stehenden Budget auskommen, d.h. die Gelder einteilen und verwalten können.

- Ein eigenes Konto muss zum Start in die Verselbstständigung vorhanden sein, mit allem was zur Kontoführung gehört: Bankkarte, das Wissen, wie Kontoauszüge zu verstehen sind und wo man sie bekommt; das Wissen, wie eine Überweisung durchzuführen ist, bzw. welche Vorteile/Nachteile Online-Banking hat.

- Ggf. rechtzeitige Einsetzung einer gesetzlichen Betreuung für den Bereich Finanzen

- Regeln, wie mit festen Kosten (z.B. Miete, Strom, Gas, Handyvertrag, Fitnessstudio-Vertrag) umgegangen werden soll: Ggf. Daueraufträge einrichten.

- Klären, von wem in einer finanziellen Notlage Hilfe zu bekommen ist: Können die Pflegeeltern helfen? Freunde Geld leihen?

- Ggf. Anbindung an eine Schuldnerberatungsstelle

- Ggf. Antrag auf Beitragsbefreiung von der Rundfunkbeitragspflicht bei „ARD ZDF Deutschlandradio – Beitragsservice“ stellen

4. Wohnen

- Vor Anmietung einer eigenen Wohnung das Jobcenter einbeziehen, falls die Wohnung über das Jobcenter finanziert werden muss: In der Regel verlangen Jobcenter die Vorlage eines personifizierten Wohnungsangebotes (der Ausdruck des Exposés aus dem Internet reicht meist nicht!), welches auf Angemessenheit überprüft wird. Erst mit der Zusage/ Kostenübernahme des Jobcenters kann die Wohnung angemietet werden.

- Ggf. Klärung der Übernahme der Mietkaution: Wurde der Betrag im Rahmen der Vollzeitpflege angespart? Muss ein Kautions-Darlehen des Jobcenters in Anspruch genommen werden (ggf. Klärung der Rückzahlungsmodalitäten)?

- Wissen, über angemessenes Verhalten (auch im Konfliktfall, z.B. bei Beschwerden von der/über die Nachbarschaft) als MieterIn ist vorhanden: „Angeblich war ich zu laut, jetzt will die Hausverwaltung mir kündigen. Was kann ich noch tun?“

- Fähigkeit, nicht nur gelegentlich zu waschen oder zu kochen, sondern kontinuierlich einen eigenen Haushalt zu führen, ist vorhanden: „Wie geht eigentlich der Gasherd an, da kommt nur komisch riechende Luft aus dem Backofen und es wird gar nicht heiß?“ „Wie bekomme ich das Flusensieb der Waschmaschine sauber?“ „Wo bekommt man eigentlich Briefmarken, und woher weiß ich, wieviel da drauf muss?“ „Shit, die Wohnung ist überschwemmt! Und jetzt?!?“

- Ggf. Klärung mit Jugendamt/Jobcenter:

Kann eine Erstausstattung (Mobiliar, Haushaltsgeräte) beantragt werden? In welcher Höhe? (Regionale Ausführungsverordnungen beachten!) Ggf. Erstellung einer Liste des Mobiliarbedarfs für einen entsprechenden Antrag beim Jugendamt (wirtschaftliche Jugendhilfe) oder beim Jobcenter. Klärung, welche privaten Ressourcen es gibt. Wer kann was zur Erstausstattung beisteuern?

- Klärung: Wer hilft beim Umzug? „Wer fährt meine Möbel, ich kenne doch niemanden mit einem Auto?“ Wer bezahlt den Umzug an den Studienort? „Wer hilft mir mit dem Möbelaufbau; alle meine Freunde sind in der Schule?“

- Klärung der ersten Nacht in der eigenen Wohnung: „Muss ich gleich alleine da schlafen? Das ist mir unheimlich.“

- Was hilft gegen Einsamkeit?

- „Wem kann ich meinen Zweitschlüssel geben, falls ich mich mal ausschließe?“

- Kenntnis des Wohnumfeldes:„Wo gibt es günstige Klamotten?“ „Wo kann ich vegan einkaufen?“ „Wo kann ich mal ins Internet? Was für die Schule ausdrucken?“

- Polizeiliche Ummeldung: „Muss ich das Meldeformular allein ausfüllen? Was ist denn ein Familienbuch?“

- Namensschild an Klingel und Briefkasten sind direkt nach dem Einzug angebracht

- Versicherungsfragen sind geklärt: „Brauche ich überhaupt eine Hausratversicherung?“ „Habe ich nicht schon eine Haftpflichtversicherung?“

- Aufklärung über Brandschutzmaßnahmen (z.B. Rauchmelder anbringen) und Verhalten im Brandfall: Es kommt nicht selten vor, dass junge Menschen eine Pizza in den Ofen schieben und dann einschlafen. Lebensgefahr!

5. Gesundheit

- Klärung der Krankenversicherung

- Anbindung an ÄrztInnen des Vertrauens besteht

- Gesundheitsprävention erfolgt selbstständig inkl. Wissen über Zahngesundheit, Sexualität & Verhütung(s-Pannen)

- Übergabe von Impfbuch, zahnärztlichem Bonusheft u.ä. an den jungen Menschen

- Ggf. Fortsetzung oder rechtzeitige Einleitung einer ambulanten Psychotherapie und Kostenklärung

- Wissen: „Was kann ich tun, wenn es mir schlecht geht? Zu wem kann ich gehen, wenn ich mal nicht allein sein möchte / mal einen guten Tipp brauche / in den Arm genommen werden möchte?“

- Wissen, über Umgang mit Krisen ist vorhanden: „Wo – ganz konkret – wende ich mich hin? Wo kann ich – auch nachts – anrufen?“

6. Familie / soziales Netz

- Es ist klar, zu wem aus der Pflegefamilie, Herkunftsfamilie oder anderen Verwandten bzw. zugewandten Erwachsenen eine tragfähige, verlässliche Beziehung besteht: „Wo kann ich im Notfall hin? Sind die nicht genervt?“ „Ist das nicht peinlich, dass ich gerade nicht allein klar komme?“

- Klärung, ob es überhaupt ein soziales Netz gibt, oder mindestens ein/e beste/n FreundIn

- Klärung, ob es in der Stadt/der Region andere Vernetzungsmöglichkeiten gibt (z.B. Careleaver Netzwerke oder Mentoring-Programme für Careleaver), die hilfreich sein könnten.

7. Umgang mit Behörden

- Klärung, ob der junge Mensch seine Rechte kennt bzw. ob eine Aufklärung zu den Rechten erfolgt ist: „Ich will noch länger in meiner Pflegefamilie bleiben, aber das Jugendamt will das nicht bezahlen. Was kann ich tun? Wo kann ich mich hinwenden?“

„Ich will raus aus der Pflegefamilie und in ein BEW, aber weil ich schon 17 bin soll ich entweder in der Pflegefamilie bleiben oder ich bekomme gar keine Hilfe mehr. Was kann ich jetzt machen?“

- Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen der Jugendhilfe sind bekannt; auch, wo sie wie zu beantragen sind bzw. wo Hilfe ggf. Hilfe bei der Antragstellung zu bekommen ist.

- Anlaufstellen sind bekannt und der junge Mensch weiß, welche Behörde, für welche Anträge zuständig ist, versteht sowohl die Anträge, als auch, dass es Fristen zu beachten gibt.

- Der junge Mensch weiß, dass zwar auch ein mündlicher Antrag ein Antrag ist, dass es sich aber empfiehlt, Anträge schriftlich einzureichen und auf einem schriftlichen Bescheid zu bestehen. Er weiß, dass es Rechtsberatungsstellen, Ombudsstellen und Beratungshilfe gibt.

- Kann kompetent und selbstbewusst auftreten (nicht als BittstellerIn) und lässt sich ggf. von einer Vertrauensperson belgeiten

- Wichtige Unterlagen sind sortiert und befinden sich übersichtlich in einem Ordner.

Wie die Länge dieser Übersicht zeigt, wird der Verselbstständigungsprozess im  Jugendhilfezusammenhang weniger als die mehrjährige und spannende Lebensreise zum Erwachsenwerden betrachtet, die sie eigentlich ist, sondern als eine komplexe nicht klar definierbare Kombination aus praktischen Kompetenzen, Wissen, Persönlichkeitsreife und psychosozialen Fähigkeiten. Ein junger Mensch verlässt das Jugendhilfesystem; davor und dabei wird versucht, zu messen, was diese Person schon kann bzw. noch braucht oder was andere zu seiner Unterstützung noch leisten müssen, bevor der junge Erwachsene allein leben kann. Übersichten dieser Art können bestenfalls die „Arbeit des Übergangs“ für Pflegeeltern, Fachkräfte und den jungen Menschen erleichtern. Es wäre allerdings illusorisch anzunehmen, das Individuum in seiner Gesamtheit und das Gefühl mit der dieses, notgedrungen, dem Jugendhilfesystem anvertraute Individuum in die Selbstständigkeit startet, mittels Listen, Tabellen und Übersichten erfassen zu wollen. Entscheidend ist das Wohlbefinden des jungen Menschen und wie sich dieser Mensch mit der Herausforderung „Verselbstständigung“ fühlt, mit welcher Zuversicht er sich auf den Weg macht und mit welcher Unterstützung er einen guten oder eben schlechten Start geboten bekommt.

Ein junger Mensch kann alles können und wissen, was hier aufgelistet wurde, und sich doch weiterhin den Verbleib in der Pflegefamilie oder ein anderes, weiteres Jugendhilfeangebot wünschen. „Zur Sicherheit“, so erklären sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dann oft. Je besser die Dinge laufen, desto mehr Erklärungen verlangt das Jugendhilfesystem, wenn junge Menschen „trotzdem“ Unterstützung haben wollen. Wer würde es ihnen verdenken, sich diese Sicherheit in Form von Vertrauenspersonen und wenigstens einem Zuhause-Ersatz erhalten zu wollen? „Mir mal was kochen, oder Wäsche waschen ist ja kein Problem, aber ob ich das dann auch immer alles auf einmal kann?!“ gab ein junger Careleaver kürzlich auf einer Careleaver-Tagung zu bedenken, als über die Tauglichkeit von Fragebögen zur Kompetenzentwicklung diskutiert wurde.

Astrid Staudinger ist Koordinatorin des Careleaver Kompetenznetz bei der Familien für Kinder gGmbH.

Der Beitrag ist zuerst erschienen in Frühe Kindheit, Zeitschrift der Deutschen Liga für das Kind, Ausgabe 05-2015

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