Nach der Jugendhilfe auf eigenen Beinen stehen

Datum: 04.08.2017  |  Geschrieben von Astrid Staudinger

"2 Jahre Careleaver-Netzwerktreffen: Happy Birthday!"

Ein Erfahrungsbericht aus dem Careleaver Kompetenznetz

Am 16.06.2015 fand das erste Careleaver-Netzwerktreffen bei Familien für Kinder statt. Im Vorfeld hatten wir Projektkoordinatorinnen, meine Kollegin Anna Seidel und ich, Pflegekinderkinderdienste, sowie heimstationäre Einrichtungen, vorwiegend in Berlin aber auch in Brandenburg, angeschrieben, um auf das neue Angebot der Netzwerktreffen aufmerksam zu machen. Ergänzend nutzten wir bestehende Kontakte zu Fachkräften (das waren viele) und Careleavern (das waren nicht so viele). Das Interesse der Fachkräfte war groß, die Resonanz durchwegs positiv: Endlich etwas, wo die Jugendlichen hinkönnen, wenn die Hilfen beendet werden und es noch offene Fragen gibt! Zahlreiche sozialpädagogische Fachkräfte gaben uns die Rückmeldung, dass sie Jugendliche in der sogenannten Verselbstständigung kennen, die sie auf das Angebot aufmerksam machen.

Berlin-Brandenburg ist groß, also rechneten wir mit regem Zulauf. In freudiger Erwartung kauften wir kiloweise Kirschen, Süßigkeiten, viele Getränke und eine dicke Torte. Wir buchten einen großen Raum und warteten – etwas aufgeregt – darauf, dass es an der Tür klingelt. Um 18 Uhr kamen dann exakt die beiden Careleaver, die sich vorab angemeldet hatten; ein junger Mann und eine junge Frau, die ich aus anderen Zusammenhängen kannte. Darüber hinaus: gähnende Leere. Beide sahen sich irritiert um: „Ja, und wo sind die anderen?“ Es blieb bei der Viererrunde, in der wurde dann aber, nachdem der erste Schock überwunden war, konstruktiv drauf los gearbeitet: Ideen wurden entwickelt und konkrete Vorschläge gesammelt, was ein Netzwerk bieten sollte (Möglichkeiten, sich zu engagieren, aber auch schöne, gemeinsame Aktivitäten und zusammen kochen/ essen), wie oft die Treffen sein sollten (einmal monatlich), wie die Kommunikation ablaufen sollte (per Mail und bei Bedarf telefonisch). Weiteres Ergebnis: Das Netzwerk braucht unbedingt Facebook!

Nach dieser kleinen, aber feinen, Gründungsitzung hat sich viel getan: Es fanden monatlich Netzwerktreffen in Berlin statt, außerdem zweimal jährlich Netzwerktreffen in Form von zweitägigen Wochenend-Workshops in Brandenburg. Anfangs führte ich die Berliner Netzwerktreffen noch zusammen mit meiner Kollegin Anna Seidel (Sozialpädagogin, aber auch Careleaverin) durch. Diese Doppelbesetzung musste aus arbeitsorganisatorischen Gründen jedoch bald aufgegeben werden, so dass ich die Berliner Netzwerktreffen nun schon lange allein organisiere und gestalte, während wir bei den Brandenburger Workshops nach wie vor gemeinsam vertreten sind.

Was die Themen und Arbeitsinhalte im Careleaver-Netzwerk Berlin-Brandenburg sein könnten, ließ sich zu Beginn nur erahnen. Klar, es würde Kennenlernen und Austausch geben, aber die Themen sollten die Careleaver mitbringen, und die mussten uns ja erstmal finden.

Mittlerweile gibt es 28 Menschen zwischen 18 und 39 Jahren, die – mehr oder weniger häufig und unterschiedlich intensiv – mit uns netzwerken. 20 Careleaver besuchen dabei Netzwerktreffen, die Übrigen sind „Hintergrund-Careleaver“. Letztere finden es gut, dass es ein Projekt mit und für Careleaver gibt. Die Hintergrund-Careleaver bekommen zwar auch alle Informationen, Angebote und Emails, aber sie identifizieren sich eher nicht als Careleaver bzw. mit dem Netzwerk. Sie bereichern das Projekt aber punktuell mit ihrem Erfahrungswissen zu Leaving Care und/oder ihrem Know How aus Beruf und Studium; die „Hintergrund-Careleaver“ wollen aus unterschiedlichen Gründen keine Netzwerktreffen besuchen oder regelmäßig mitarbeiten. Zwei Frauen, die vor dem ersten Netzwerktreffen angekündigt hatten, niemals Netzwerktreffen besuchen zu wollen, nehmen nun doch gelegentlich teil und bringen sich ein.

Die meisten Netzwerkteilnehmenden sind Frauen, die meisten lebten oder leben im heimstationären Bereich. Die Mehrzahl hat die Jugendhilfe schon ein paar Jahre oder auch ganz lange hinter sich, die meisten wollen nicht öffentlich machen, dass sie Careleaver sind, sowie die Mehrheit auch nicht bei Veranstaltungen sichtbar werden möchte. Die Angst vor der schon häufig erlebten Stigmatisierung scheint groß zu sein; manchen ist diese Information über einen mehr oder minder großen Teil ihrer Biografie auch schlichtweg zu persönlich, um sie über das Netzwerk und das eigene soziale Umfeld hinaus publik zu machen.

Bei den ersten Netzwerktreffen gab es noch Vorstellungsrunden, in denen die Teilnehmenden erzählten, wo sie in der Jugendhilfe untergebracht waren oder wie lange sie in einer oder mehreren Pflegefamilien waren. Dieses Erinnern löste teilweise auch unangenehme Gefühle aus. Manchmal machte sich eine dunkle, bedrückte Stimmung breit, obwohl kurz vorher scheinbar alle noch guter Dinge gewesen waren. Es gab – außerhalb der Netzwerktreffen oder am Rande mitgeteilt – einzelne Rückmeldungen, dass die erzählten Probleme der anderen auch das Erinnern (früherer oder gegenwärtiger bewusst verdrängter) eigener Probleme und Gefühlszustände zur Folge hätte, dass das unerwünscht wäre, wo sich diese Personen doch intensiv (z.B. durch Therapie) auf das Gelingende und das „Hier & Jetzt“ und das in die Zukunft schauen zu konzentrieren versuchen. Da im Laufe der Zeit darüber hinaus deutlich wurde, dass manche nicht gern über sich, über ihre Gegenwart und ihre Vergangenheit sprechen wollen (oder es in der Runde nicht können), wird das einander Vorstellen mittlerweile abgekürzt und eher nebenbei erledigt. Das bewirkt, dass zurückhaltende Menschen auch erst mal abwarten und beobachten können, bis sie entscheiden, ob und wie viel sie von sich erzählen.

Im Zuge der Erfahrungen der ersten Monate entwickelte sich in den letzten beiden Jahren bei den Berliner Netzwerktreffen (bei den Brandenburger Netzwerktreffen haben wir insgesamt viel mehr Zeit, dadurch wird auch mehr gearbeitet) aus einem geplanten Ablauf insgesamt eine eher informell anmutende „Alles kann, nichts Muss“-Atmosphäre. Viel Austausch findet trotzdem statt. Dabei geht es vorwiegend nicht in erster Linie um das Aufwachsen in der Jugendhilfe, sondern um die individuellen Freuden und Hindernisse des aktuellen Lebens, die so verschieden sind, wie die Individuen im Netzwerk es sind. Einige Themen und Fragen ploppten jedoch immer wieder auf:

 Netzwerktreffen in Gülpe

Es kamen auch Careleaver, die sich „das nur mal anschauen“ wollten, andere sind schon lange dabei und wollten sich von vornherein für andere Careleaver engagieren und ihr Wissen und ihre Erfahrungen weitergeben. Es kamen auch einige wenige Careleaver, die wohlmeinend von ihren jeweiligen Einrichtungen „geschickt“ worden waren: unsere Erfahrung hiermit zeigt eindeutig, dass nur die Personen im Netzwerk geblieben sind, die aus eigenen Stücken zu uns gefunden hatten. Die von Fachkräften Vermittelten meldeten sich oft noch vor dem Treffen wieder ab oder sie erschienen einfach nicht zum Treffen oder sie kamen einmal und nicht wieder. Die Schlussfolgerung aus dieser häufig wiederkehrenden Erfahrung: Die Freiwilligkeit der Teilnahme ist von elementarer Bedeutung für eine längerfristige Zusammenarbeit.

Warum kommen Careleaver noch zu den Netzwerktreffen? Manchen geht es um eine „Auszeit vom Alltag“, einigen um das „Treffen von Leuten, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben“, denen z.B. „nicht lang und breit erklärt werden muss, warum man Weihnachten nicht nach Hause fährt“.

Manche kamen mit Erwartungen, die nicht erfüllt werden konnten, z.B. mit der Hoffnung, dass das Careleaver Kompetenznetz Wohnungen an Careleaver vermitteln kann. Bei den Netzwerktreffen wurden und werden Tipps für die Wohnungssuche gegeben (z.B. rechtzeitig die Kaution ansparen, ggf. den „Wohnführerschein Jugendhilfe“ machen, auch Wohnungsbaugenossenschaften ins Auge fassen), das politische Grundproblem des mangelnden, bezahlbaren Wohnraums kann aber an dieser Stelle natürlich nicht gelöst werden. Im Netzwerk wurde und wird die große, existenzielle Not vieler Careleaver sichtbar, wenn die Jugendhilfe endet und monatelang keine bezahlbare Wohnung gefunden werden kann.

Seit zwei Jahren wird bei den „Careleaver-Netzwerktreffen Berlin-Brandenburg“ viel und gut gegessen; es wurde geschwommen, gemalt, gespielt, geklettert. Wir sind spazieren gegangen, haben gegrillt und in Brandenburg Lagerfeuer entzündet (mittlerweile ohne die Hilfe von Männern mit Brennspiritus). Wir haben zusammen Keramik bemalt und im Theater „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ angeschaut.

Netzwerktreffen

Es wurde viel gelacht, manchmal war die Stimmung auch traurig. Es wurde viel diskutiert, manchmal auch kritisiert und vereinzelt auch mal aufgeregt gestritten. Es ging u.a. um Einstellungen, Lebensanschauungen und Genderfragen. Aber trotz der Sprengkraft mancher Themen, ging man üblicherweise vorsichtig und wertschätzend miteinander um (was mir angesichts der unterschiedlichen Persönlichkeiten, ihrer Hintergründe und Temperamente doch sehr bemerkenswert erscheint). Netzwerktreffen mit attraktiven Aktivitäten kommen insgesamt ganz klar besser an, als Treffen in den Büroräumen, bei denen überwiegend gearbeitet wird. An den Anmeldungen oder Nicht-Anmeldungen lässt sich ablesen, dass für die 18- bis 25-jährigen eher die sozialen Aspekte der Netzwerktreffen im Vordergrund zu stehen scheinen. Sie sind es auch, die öfter vor oder nach dem Treffen persönliche Fragen haben, die sie nicht während des Netzwerktreffens stellen wollen.

Im Juni 2017 gibt es den vor zwei Jahren erwarteten großen Run auf das Netzwerk zwar immer noch nicht, aber das Netzwerk scheint ein kreativer Pool von Persönlichkeiten, Erfahrungen, speziellem Wissen und unterschiedlichsten Fähigkeiten und Interessen zu sein, die einander anscheinend gerne treffen um miteinander Spaß zu haben und/oder politisch etwas zu erreichen. Eine Netzwerkerin drückte es im Rahmen eines Interviews so aus: „Ich möchte Lobbyarbeit für diejenigen machen, die keine Lobby haben, mit Vorurteilen aufräumen und mit anderen Careleaver/-innen netzwerken. Die Stimmung und die gegenseitige Anerkennung bei den Treffen der Careleaver/-innen ist für mich etwas Besonderes.“

Kein Wunder, dass bei den Netzwerktreffen im Laufe von zwei Jahren auch viel miteinander erarbeitet wurde:

Da das Thema Leaving Care in den letzten Jahren nicht nur bei uns im Projekt sondern allgemein und bundesweit immer mehr Fahrt aufgenommen hat, erreichen uns immer mehr Anfragen, die sich direkt an Careleaver richten und die wir per Rundmail an das Careleaver-Netzwerk weiterleiten:

Careleaver-Expertise wird für Veranstaltungen angefragt, Careleaver werden von Studierenden angefragt, die für ihre Bachelor- oder Master-Arbeiten Interviews führen wollen, Careleaver werden eingeladen in Workshops z.B. an der besseren Beteiligung im Hilfeplangespräch mitzuwirken und es gibt Stellenangebote im Careleaverbereich.

Es gibt viel zu tun und gemeinsam zu erleben: Careleaver ab 17 Jahren sind herzlich willkommen. Weiterhin werden die Netzwerktreffen einmal monatlich in Berlin stattfinden, außerdem noch einmal in Brandenburg. Die Termine finden sich jeweils im Kalender unserer Projekt-Homepage:

Der Beitrag ist zuerst erschienen in "Pflegekinder" - Heft 1/2017, Herausgeber: Familien für Kinder gGmbH, Berlin.

www.careleaver-kompetenznetz.de

Astrid Staudinger

Careleaver Kompetenznetz
Familien für Kinder gGmbH

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