Datum: 20.05.2017 | Geschrieben von Anna Seidel
Loslassen und doch Halt bieten.
Wie der Übergang in die Selbstständigkeit
gut begleitet werden kann.
Anna Seidel ist 20 Jahre alt, als sie ihre Familienwohngruppe verlässt. Ihr Übergang in die Selbstständigkeit war nicht ganz einfach. Sie berichtet von Hindernissen und welche Unterstützung sie auf dem Weg erhalten hat.
Mein Weg in die Selbstständigkeit
Junge Erwachsene, die in den Hilfen zur Erziehung aufgewachsen sind, werden vor dem Übergang in ein eigenständiges Leben vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Seit meinem 12. Lebensjahr bin ich mit fünf anderen Kindern in einer Familienwohngruppe aufgewachsen. Mit dem 18. Geburtstag habe ich Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) erhalten und bin im selben Haus in eine separate Wohnung gezogen. Bis zum Abschluss des Abiturs im Juli 2005 konnte ich dort leben. Ich hatte vor, im Herbst ein Soziales Jahr in Namibia zu absolvieren, hierfür musste ich aber drei Monate nach Schulende überbrücken. In dieser Zeit konnte ich weiterhin kostenlos in meiner Familienwohngruppe bleiben.
Zurückkommen an einen sicheren Platz
Auch nach dem Sozialen Jahr konnte ich dorthin zurückkehren und in Ruhe eine Wohnung am neuen Studienort suchen. Das war für mich überlebenswichtig. Die Familienwohngruppe war für mich ein wichtiger Anker, und ein Platz, an dem ich mich sicher gefühlt habe.
Bei vielen anderen Careleavern, also jungen Menschen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe bzw. in Pflegefamilien aufgewachsen sind, wird eine so spontane Hilfe leider nicht geleistet. Nach dem Auszug aus einer Wohngruppe besteht kaum die Möglichkeit einer kurzfristigen Rückkehr. Das Bett ist hier schnell wieder besetzt. Mir ist erst im Rahmen meines Engagements für Careleaver bewusst geworden, dass solche Situationen für die jungen Menschen, die weniger Hilfe von der Herkunftsfamilie erwarten können, sehr prekär sind. Häufig sind aber nicht nur die Lücken zwischen Hilfeende und Ausbildungsbeginn ein Hindernis beim Übergang in die Selbstständigkeit. Viele Careleaver müssen dafür kämpfen, dass sie das Recht haben, über das 18. Lebensjahr hinaus Hilfe zu erhalten. Der eigentliche Regelrechtsanspruch auf die Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) wird viel zu häufig nicht gewährt.
Nach meinem Auslandsjahr in Namibia habe ich begonnen, Soziale Arbeit zu studieren. Die Wohnungssuche war nicht wirklich einfach. Ich hatte keine Rücklagen, kein eigenes Einkommen und auch keinen direkten Bürgen für eine Mietkaution. Auch hier hat meine Familienwohngruppe ausgeholfen und für mich gebürgt. Da ich auf meinen BAföG-Bescheid mehrere Monate warten musste und ich nicht von der Hand in den Mund leben konnte, habe ich zur Überbrückung meiner finanziellen Schwierigkeiten Hartz IV beantragt. Ich fühlte mich beim Amt wie eine Bittstellerin und wurde erst auf meine Herkunftsfamilie verwiesen, da ich noch unter 25 Jahre alt war. Erst, als ich deutlich machen konnte, dass ich vorher in der Kinder- und Jugendhilfe gelebt habe, wurde mir der Antrag als Darlehen gewährt. Für eine Möblierung meines Zimmers in der neuen WG hat das Geld dann aber trotzdem nicht gereicht. In der Jugendhilfe Geld anzusparen, ist leider sehr schwierig. Sobald man ein eigenes Einkommen hat, werden 75 Prozent als Kostenheranziehung einbehalten. Meinen Auslandsaufenthalt konnte ich nur durch Spenden finanzieren und meine ersten Möbel in der WG bekam ich von Bekannten geschenkt. Sehr viele Careleaver stehen also vor der Herausforderung, neben einer finanziellen Unsicherheit und dem teils zu frühen Hilfeende, allein im Leben klar zu kommen.
Doppelte Anforderungen
In Übergangsphasen setzt man sich vermehrt mit der eigenen Vergangenheit auseinander, nicht verarbeitete Traumata können leicht wieder an die Oberfläche kommen. Viele junge Careleaver sind mit den doppelten Anforderungen eines gleichzeitigen Schulabschlusses, dem Umzug in die eigene Wohnung und dem Beginn einer Ausbildung stark überfordert. Neben dem Gefühl des Allein-Seins treten in dieser Phase vermehrt Rückschläge und Abbrüche auf. Leider haben Careleaver häufig nicht die Möglichkeit, in die alte Hilfe zurückzukehren bzw. sich schnell Hilfe in Krisensituationen zu suchen. Ich konnte mich immer an meine Familienwohngruppe wenden bzw. gehe dort heute noch immer ein und aus. Diese Familie ist zu meiner zweiten Familie geworden. Alle großen Festtage verbringe ich dort.
Während des Studiums habe ich häufiger die Hilfe meiner Familienwohngruppe gebraucht. Sie unterstützten mich, als ich dreimal Widerspruch gegen den BAföG-Bescheid einlegen musste, und standen mir bei Ämtergängen mit Rat und Tat zur Seite. Das gab mir eine Sicherheit, die ich leider durch meine Herkunftseltern nicht erhalten konnte. Ich habe zwar immer alle nötigen Unterschriften von den Herkunftseltern bekommen, doch ein emotionaler Rückhalt hat vollkommen gefehlt.
Viele Careleaver trifft es hier noch schlimmer, sie haben entweder gar keinen Kontakt mehr zu den leiblichen Eltern oder das Verhältnis ist so zerrüttet, dass jeder Kontakt sehr belastend und traumatisierend sein kann. Viele Careleaver, aber auch Fachkräfte, wissen nicht, dass man mit Vollendung des 18. Lebensjahres wieder auf seine Herkunftseltern verwiesen wird. Bei allen Anträgen, die man stellt, muss man Unterschriften oder Gehaltsnachweise der Herkunftseltern einreichen. Aber die Herkunftsfamilie muss nicht unbedingt nur eine Belastung darstellen. Ich hatte eine tolle Oma und wunderbare Onkel und Tanten, die mit mir während der ganzen Zeit im Heim Kontakt gehalten und mich unterstützt haben. Sie haben mich sogar in Namibia besucht. Insgesamt ist es für Careleaver besonders wichtig, dass man vor dem Übergang ein Netz von Vertrauten, Freunden und Bekannten aufbaut, die einem in den verschiedensten Situationen helfen können. Mir hat dieses Netz meinen Übergang extrem erleichtert.
Was hat mir auf dem Weg in die Selbstständigkeit geholfen?
Die Zusammenarbeit meiner Familienwohngruppe und meiner Herkunftsfamilie hatte einen großen Anteil an meinem gelungenen Übergang. Sie haben mit- statt gegeneinander gearbeitet und im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles getan, um mich vor und nach dem Übergang zu unterstützen. Ich fühlte mich bei beiden Familien wohl und verwurzelt.
Ich wusste, dass ich zur Familienwohngruppe zurückkehren konnte, ich wusste aber auch, dass meine Herkunftseltern auf mich stolz waren. Ich habe mich nicht allein gelassen gefühlt, sondern angenommen und geliebt. Meine Familien haben mir Halt gegeben und trotzdem losgelassen, damit ich mich frei entfalten konnte. Diese sozialen Beziehungen und engen Bindungen an bestimmte Bezugspersonen wie meine Pflegemama und meine Oma haben mich bestärkt, meinen Weg zu gehen. In ihnen sah ich immer Vorbilder, an denen ich mich orientieren konnte.
Bildung war der Schlüssel
Bildung war und ist für mich der Schlüssel zum Erfolg. Ich wollte etwas aus meinem Leben machen. Schon bevor ich ins Heim gekommen bin, war für mich klar, Abitur zu machen. Hier wurde ich auch stark durch meine Herkunftsfamilie unterstützt. Über meine Erfolge in der Schule und im Sport habe ich Anerkennung erhalten und Freunde gefunden. Die Freundschaften, der gute Draht zu Lehrern und meine sportlichen Erfolge haben mich motiviert und mir Stärke und Selbstvertrauen gegeben. Mit meinem Abschluss standen mir nun alle Optionen offen.
Man muss dranbleiben
Ein Übergang ist auch immer mit Rückschlägen verbunden. Da braucht man ein gutes Durchhaltevermögen. Man muss dranbleiben, sich durchbeißen, auch wenn man denkt, dass alles unfair ist. Nur so findet man einen Weg durch den Behördendschungel. Ich habe immer nach dem Motto gelebt: Wenn eine Tür zugeht, dann geht immer eine andere für dich auf.
Neben den emotionalen Voraussetzungen sind aber bestimmte Rahmenbedingungen, wie z.B. eine gesicherte Finanzierung und eine Wohnung, Grundvoraussetzungen für einen gelingenden Übergang. Erst wenn die Rahmenbedingungen stimmen, kann man selbstbestimmt seinen eigenen Weg gehen. So sollten keine Lücken zwischen Hilfeende und Ausbildungsanfang entstehen. Es muss genug Startkapital für eine Wohnung und Kaution da sein und bei Krisen müssen Notfallfonds eingerichtet werden. Das Sparen sollte während der Hilfe erleichtert werden und dem Careleaver sollte da Hilfe gewährt werden, wo er sie als erstes ersucht.
Auch wenn sich einem im Übergang viele Hürden in den Weg stellen, kann man diese mit der Hilfe eines stabilen Netzes, gesicherten finanziellen Rahmenbedingungen und dem Wissen, wieder willkommen zu sein, sicher überspringen.
Weitere Informationen: www.careleaver-kompetenznetz.de
Die Autorin_
Anna Seidel
Sie lebt in Braunschweig und arbeitet für das Projekt „Careleaver Kompetenznetz“ und setzt sich mit ihren Erfahrungen für einen verbesserten Übergang von Pflegekindern ein.
Der Beitrag ist zuerst erschienen in der Zeitschrift "Familienbande 01/2017", Herausgeber Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V.